Die Nachhaltigkeitsagenda und ihre Bedeutung für die Schule
1. Von den Millenniums-Entwicklungszielen zur neuen Nachhaltigkeits-Agenda 2030
Die Entwicklungsziele, die 189 Staats- und Regierungschefs vor neun Jahren in New York für das Jahr 2015 festsetzten, waren seit ihrer Formulierung im Jahr 2001 die globale Leitlinie für die Entwicklungspolitik. Durch insgesamt acht Zielvorgaben wollten die Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015 besonders drängende Probleme wie extreme Armut, Hunger und hohe Kindersterblichkeit bekämpfen sowie den Zugang zur Grundbildung für alle weltweit sichern. Die Politiker und Politikerinnen hatten ein großes Versprechen abgegeben und sind in vielen Bereichen furchtbar gescheitert. Der Anteil der armen Bevölkerung ist gestiegen statt zu schrumpfen, die Anzahl der chronisch Unterernährten nimmt stetig zu, die Bildungsbeteiligung stagniert weltweit und im Kampf ums Überleben ist der Schutz der Umwelt scheinbar nur im Weg.
Natürlich gibt es Gründe für dieses Scheitern: Weltweite Zunahme von Krisen und Kriegen, anwachsender Terror, Flüchtlingsbewegungen in nie gekanntem Ausmaß, Dürre, Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche. Kritische Stimmen sprechen dennoch von einem „moralischen Skandal“[1]. In Wahrheit ist es ein politischer und gesellschaftlicher Skandal. Denn es gibt auf der Welt ausreichend Ressourcen und technologisches Know-how, um den globalen Wohlstand gerecht zu verteilen. Die Millenniumentwicklungsziele der UN waren nicht zu ehrgeizig. Es mangelte aber am politischen Willen, die erforderlichen Maßnahmen ganz oben auf die Agenden der lokalen, nationalen und internationalen Politik zu setzen.
Ein neuer Versuch, die Verantwortung der Weltgesellschaft wachzurütteln, wurde soeben gestartet. Es geht um das Gebot der Nachhaltigkeit, das, aufgefächert auf die Bereiche Wirtschaft, Gesellschaft und Ökologie, ausnahmslos für alle Staaten gelten soll, mit der Zielsetzung „Ending poverty, transforming all lives and protecting the planet“ (Ban Ki-moon: "The road to dignity by 2030", Dezember 2014)
2. Die neue Entwicklungsstrategie 2030 der Vereinten Nationen
Lange konnten wir uns zurück lehnen und die Lösung oben geschilderter Probleme getrost unseren Ministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Finanzen überlassen. Ging es doch um Unterstützung der weniger entwickelten Staaten mit Geld, Gütern, Know-How oder Experten vor Ort. Dies hat sich mit der neuen Nachhaltigkeits-Agenda 2030 grundlegend geändert. Erstmals wird ein universaler Entwicklungsprozess beschrieben, der nicht nur die Entwicklungsländer im Fokus hat, sondern alle Staaten in den Blick nimmt und allen Staaten umfassende Transformationsprozesse abfordert in den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: Wirtschaft, Gesellschaft und Ökologie.
Alles begann
- 2001 mit der Formulierung der Millenniums-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals).
- 2012, als ersichtlich wurde, dass die gesetzten Entwicklungsziele nicht überzeugend erreicht werden konnten, beschlossen die an der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro (Rio+20) teilnehmenden Staaten die Einrichtung einer Open Working Group, die bis zum Herbst 2014 tragfähige Zielvorgaben für diesen umfassenden Entwicklungsprozess aller Staaten erarbeiten sollte.
- Im Herbst 2014 legte die Open Working Group on SDGs (OWG) tatsächlich Zielvorgaben für umfassendere nachhaltige Entwicklungsziele vor. Dieser Vorschlagskatalog umfasst 17 Hauptziele mit insgesamt 169 Unterzielen.
- Im Dezember 2014 erschien dann der mit Spannung erwartete Bericht des UN-Generalsekretär Ban Ki-moon: " The road to dignity by 2030: Ending poverty, transforming all lives and protecting the planet“. Dieser Bericht nimmt die Ziele der Open Working Group auf und macht sie zur entscheidenden Grundlage für den gesamten neuen Entwicklungsprozess 2030. Interessant ist der Titel des Berichtes, weil er dem Administrativen des geplanten Transformationsprozess so etwas wie eine philosophische bzw. moralische Ausrichtung eben will.
- Auf der für Juli 2015 in Addis Abeba geplanten dritten Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung sollten wichtige Entscheidungen darüber fallen, wie man sich die Finanzierung dieses Entwicklungsprozesses vorstellt. Leider liegt bisher kein ausreichender Finanzierungsplan vor.
- Auf dem Gipfeltreffen der Vereinten Nationen vom 25.-27. September 2015 in New York wurde die neue Nachhaltigkeits-Agenda 2030 endgültig verabschiedet. Die Bundesregierung hat bereits ein positives Statement abgegeben, wie viele andere Staaten auch.
Die 17 Hauptziele lauten:
- Armut überall und in allen Formen beenden
- Hunger beenden, Ernährungssicherheit und höherwertige Ernährung erreichen und nachhaltige Landwirtschaft fördern
- Gesundes Leben ermöglichen und Gesundheit in allen Altersgruppen fördern
- Gesellschaftlich inklusive, gerechte und qualitativ hochwertige Bildung gewährleisten und lebenslanges Lernen für alle fördern
- Geschlechtergerechtigkeit und Mitwirkungsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen
- Allgemeine Verfügbarkeit von Wasser und Sanitärversorgung sowie nachhaltiges Wassermanagement
- Allgemeiner Zugang zu erschwinglicher, zuverlässiger, moderner und nachhaltiger Energie
- Förderung von anhaltendem, breitenwirksamen und nachhaltigem Wachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle
- Aufbau stabiler Infrastruktur, sozial inklusive und nachhaltige Industrialisierung und Förderung von Innovationen
- Abbau von Ungleichheit innerhalb von Ländern und zwischen ihnen
- Städte und Siedlungen sozial inklusiv, sicher und belastbar machen
- Nachhaltige Muster in Konsum und Produktion gewährleisten
- Im Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen schnell handeln
- Ozeane, Meere und maritime Ressourcen schützen und nachhaltig nutzen
- Irdische Ökosysteme schützen, wiederherstellen und nachhaltig nutzen, nachhaltige Waldwirtschaft, Kampf gegen Wüstenbildung und Begrenzung des Verlusts der biologischen Vielfalt
- Friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne der Nachhaltigkeit fördern, Zugang aller Bevölkerungsgruppen zur Justiz und Schaffung wirksamer, rechenschaftspflichtiger und sozial inklusiver Institutionen auf allen Ebenen
- Stärkung der globalen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung und ihrer Implementationsmittel.
3. Die Nachhaltigkeits-Agenda 2030 und ihre Bedeutung für die Schule
Es gibt zahlreiche Berührungspunkte zwischen der neuen Nachhaltigkeits-Agenda der Vereinten Nationen und dem Lehrplan der Schulen, vor allem wenn man in Rechnung stellt, dass keins der 17 Ziele erreichbar sein wird, wenn es nicht gelingt, ihre Umsetzung politisch durchzusetzen und das heißt mit einem Mindestmaß an (aus)gebildeten Menschen. Konkreter aber wird der Bezug zu Unterricht und Schule mit dem 4. Ziel für nachhaltige Entwicklung, wie man die „Sustainable Development Goals“ übersetzen könnte. Es lautet: "Gesellschaftlich inklusive, gerechte und qualitative hochwertige Bildung gewährleisten und lebenslanges Lernen für alle fördern."
Auch wenn dies zunächst einmal ziemlich allgemein klingt, so lässt sich auf die deutsche Schule bezogen, doch die ein oder andere konkrete Aussage treffen, und zwar ungeachtet ihrer vielfältigen Differenzierung in Schultypen und auch ungeachtet ihrer kulturhoheitlichen länderspezifischen Ausprägungen:
-
Inklusive Bildung
Nach der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 hat Deutschland sich auf den Weg zu einem inklusiven Bildungssystem gemacht. Der Weg ist vielfach schwieriger als gedacht, sowohl was die baulichen Herausforderungen, insbesondere aber was die pädagogischen Herausforderungen betrifft. So gehen die gesetzlichen Regelungen und der Stand der Umsetzung in den einzelnen Ländern noch weit auseinander. Deutschland hat hier trotz aller Fortschritte immer noch erheblichen Nachholbedarf was den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen betrifft. Und die letzte FORSA-Umfrage unter Lehrkräften setzt kein ermutigendes Signal. Ob das gemeinsame Lernen eine gute Zukunft hat, wird wohl im Wesentlichen von einer besseren Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte, wie auch von einer besseren Personalausstattung pro Klasse abhängen.
-
Gerechte Bildung
Noch immer bestimmt in Deutschland die Herkunft der Schülerinnen und Schüler über ihre Bildungschancen in größerem Umfang als ihr tatsächliches potentielles Leistungsvermögen. Diese Abhängigkeit von der Vorbildung der Eltern und ihrer Einstellung zu Schule und Bildung, aber auch von ihrem Vermögen, ihre Kinder bei schulischen Aufgaben zu unterstützen, ist in Deutschland weit stärker ausgeprägt als in fast allen im OECD-Vergleich mit aufgeführten Staaten. Dies wurde erst jüngst in einer Allensbach-Umfrage wieder bestätigt, nach der fast zwei Drittel der befragten Pädagogen die Chancengleichheit an deutschen Schulen nur unzureichend oder überhaupt nicht gegeben sehen. Wobei hier die Gründe für diesen anhaltenden Befund in einem Defizit der Schule und ihrer Lehrkräfte gesehen wird, die nicht bereit seien die Verantwortung für den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler zu übernehmen, sondern sie dem Elternhaus überlassen. Umso wichtiger wird die weitere Entwicklung der frühen Förderung in den Kitas und der Ausbau der Ganztagsschulen mit entsprechender pädagogischer Betreuung.
-
Qualitativ hochwertige Bildung
Über die Qualität der Bildung lässt sich immer trefflich streiten. Nach PISA-Maßstäben liegt die deutsche Schule im oberen Mittelfeld, wobei die Rang- und Reihenfolge der auf die Länder bezogenen Ergebnisse in Stein gemeißelt zu sein scheint: Bayern, Sachsen und Thüringen oben, die Stadtstaaten unten, was wenig über die einzelne Schule aussagt. In Bremen und Berlin wird es ebenso Schulen mit einem hohen Qualitätsstandard geben wie es in Bayern oder Sachsen solche mit schlechten Lernergebnissen geben wird. Der Streit um den rechten Weg zur besseren Bildung ist lang noch nicht ausgefochten. Die Vertreter des Gymnasiums setzen auf Schülerauslese und hohen Leistungsanspruch auch unter Inkaufnahme eines geringeren Anteils an Hochschulreife und Zugang zum Hochschulstudium. Die Anderen setzen auf die Kraft der Peergroup und Leistungssteigerung durch längere gemeinsame Lernzeiten.
International wird dem enorm hohe Anteil an Hochschulabschlüssen z. B. in den nordischen oder asiatischen Staaten das ebenfalls sehr gut qualifizierende Duale System der Berufsausbildung entgegen gehalten, freilich ohne Chance in OECD-Statistiken.
Zur Aufrechterhaltung und Steigerung einer nachhaltig wirksamen qualitativ hochwertigen Bildung in Deutschland werden weitere Anstrengungen im Bereich der frühkindlichen Bildung unerlässlich sein sowie der Ausbau der Fort- und Weiterbildungssysteme, die es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen flexibel und überzeugend auf Veränderungen im Produktions- und Wirtschaftsbereich zu reagieren.
-
Lebenslanges Lernen für alle
Das Lernen im Lebenslauf gehört zu den großen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen auch in Deutschland. Hier geht es um verpasste Bildungschancen, aber auch um rasch sich verändernde Berufsbilder. Es geht um eine alternde Gesellschaft, um einen wachsenden Anteil von Migranten, die in das deutsche Erwerbsleben integriert werden wollen, sowie um den Anspruch demokratischer Systeme auf anhaltende Teilnahme am öffentlichen politischen und kulturellen Leben.
Ein solch lebenslanges, verstanden als lebensbegleitendes Lernen ist in Deutschland noch lange nicht so selbstverständlich systemisch verankert, wie man es von einer so großen Wirtschaftsmacht erwarten könnte. Viel zu oft noch wird die Fort- und Weiterbildung der Eigeninitiative des Einzelnen überlassen. Wobei hinlänglich bekannt ist, dass die individuellen Bildungsvoraussetzungen auch über den Grad des Engagements bei Fort- und Weiterbildung entscheiden. Mit anderen Worten: Je besser die Vorbildung, desto intensiver die weitere Bildungsbeteiligung. Zurück bleiben die unausgebildeten jungen Migranten und die schlecht ausgebildeten älteren Arbeitnehmer. Ein Luxus, den sich Deutschland leistet.
Es gäbe also auch ohne die neue UN-Agenda genug zu tun in deutschen Schulen. Ruft man sich allerdings ins Gedächtnis zurück, wozu diese einzelnen Bildungsziele der Nachhaltigkeits-Agenda 2030 der Vereinten Nationen formuliert wurden, stehen neue Ziele im Mittelpunkt. Es geht um den Beitrag der Bildung als Wegbeschreibung aus der globalen Armut heraus und zur Rettung unseres Planeten durch nachhaltiges Wirtschaften, für die Umsetzung eines nachhaltigen Lebensstils, für die Unterstützung einer Kultur des Friedens, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Anerkennung kultureller Vielfalt.
Wenn dieser neue UN-Aktionsplans nicht konkretisiert wird, besteht das Risiko, dass - ähnlich wie bei den Millennium Development Goals des Jahres 2000 - die Nachhaltigkeits-Agenda 2030 in der westlichen Welt wieder ausschließlich als Richtschnur für Entwicklungsländer wahrgenommen wird, nicht aber für Veränderungen im eignen Haus, in gemeinsamer Verantwortung für die globale Entwicklung. Deutschland sollte sich in die internationale Bildungspolitik durch „Key Positions“ einbringen. Das deutsche Bildungssystem mit all seinen Stärken und Schwächen kann Wege und Irrwege zur Entwicklung der Bildung für alle aufzeigen und so zur Optimierung weltweiter Bildungserfolge beitragen. Noch aber lässt sich leider nicht erkennen, dass die neue UN-Strategie ein Thema bei den bildungspolitischen Verantwortlichen in Bud und Länder wäre.
Dr. Angelika Hüfner
in: Zeitschrift für Bildungsverwaltung, Jahrgang 32, 2016, Heft 1
[1] Vgl. Thomas Pogge in: Vereinte Nationen, 6/2014, S.250