Perceptions of Sustainability in Heritage Studies
Marie-Theres Albert (Hg.)
Die Herausgeberin, seit 2010 Initiatorin und Vorsitzende des Doktoranden-Programms „International Graduate School: Heritage Studies at Cottbus-Senftenberg University“, legt hier einen Sammelband mit insgesamt 18 Beiträgen vor. Neun Autorinnen und acht Autoren garantieren für eine internationale, weltweite Analyse unterschiedlicher Sichtweisen zur Definition und Operationalisierung des Begriffs der Nachhaltigkeit in Welterbe-Studien. Nach einem knappen einleitenden Überblick durch die Herausgeberin werden die folgenden 17 Beiträge in vier Kapitel aufgeteilt:
I. Einleitende Reflexionen
II. Geschichte und Dokumente,
III. Reflexionen und
IV. Theorie, Methoden und Praktiken.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht leicht, auf jeden Beitrag ausführlich einzugehen. Vielmehr sollen zunächst einige Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, ohne dabei die Vielfalt der Ansätze aus den Augen zu verlieren. Elf Beiträge enthalten Hinweise auf den Brundtland-Bericht; viele Aufsätze erwähnen darüber hinaus die Rahmenbedingungen, die durch die UN-Konferenzen von Stockholm 1972 zur „menschlichen Umwelt“ und von Rio 1992 zu „Umwelt und Entwicklung“, den Millenniumsgipfel in New York (2000) und die Millenniums-Entwicklungsziele (2000-2015) gesetzt wurden. Einige Beiträge enthalten bereits – höchst aktuell – Hinweise auf die vorbereitenden Arbeiten des UN-Generalsekretärs zur UN-Agenda 2030, welche in diesem Jahr gestartet wurde.
Teils direkt, teils indirekt wird selbstverständlich in sämtlichen Beiträgen auf die sog. UNESCO-Welterbe-Konvention, genauer: auf das „Übereinkommen zum Schutze des Kultur- und Naturerbes der Welt“ aus dem Jahr 1972 Bezug genommen. Marie-Theres Albert weist darauf hin, dass diese Konvention bereits damals „eine Vision zur Rolle von Nachhaltigkeit explizit formuliert hat“ (S.13). Genannt werden Bedrohungen durch zunehmende Zerstörung, „nicht nur durch die herkömmlichen Verfallsursachen, sondern auch durch den Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse“, wie es eingangs in der Präambel zur Konvention heißt. Noch deutlicher werden die Gefahren im Einzelnen aufgeführt, wenn von der „Liste des gefährdeten Erbes der Welt“ in Artikel 11 die Rede ist. Marie-Theres Albert warnt in ihrem Beitrag vor einem bereits in Gang gesetzten Missbrauch des Begriffs der Nachhaltigkeit und fordert daher eine Rückkehr zu den Grundgedanken der Konvention.
Minja Yang kritisiert eine einseitige ökonomische Sichtweise, wonach kulturelles Erbe lediglich auf den Tourismuswert reduziert wird. Sie nimmt Bezug auf die UNESCO-Erklärung zur kulturellen Vielfalt von 2001, die in der Präambel bekräftigt, „dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst“. Damit schlägt sie einen großen Bogen über das Anliegen der UNESCO, den Erhalt aller Arten des kulturellen Erbes zu einem kulturellen Dialog zu Frieden durch gegenseitige Verständigung zwischen den Zivilisationen weiter zu entwickeln (S. 23). Zugleich betont sie, dass kulturelle Nachhaltigkeit – neben den Säulen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft – als vierte Säule des Entwicklungsprozesses zu berücksichtigen sei, um den Agenda-2030-Prozess der UN als „Humanisierungsprozess“ zu ermöglichen (S. 33).
Die Rolle der Kultur in der Agenda 2030 gebührend zu berücksichtigen, wird auch von Francesco Bandarin betont, der dabei die Forderungen in der Kyoto-Vision (2012) hervorhebt: Stärkung der Beziehungen der Menschen mit dem Erbe sowie Politik-Maßnahmen zur Integration von materiellem und immateriellem Erbe im Rahmen eines gemeinsamen Ziels von nachhaltiger Entwicklung (S. 44).
Teil II enthält drei Beiträge, die sich mit der Geschichte des Naturerbes, mit Kulturlandschaften und dem immateriellen Kulturerbe befassen. In den Beiträgen von Barbara Engels und Mechtild Rössler kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Welterbe-Konvention von 1972 den „Geist“ von Nachhaltigkeit enthält, ohne den Begriff selbst zu erwähnen (S. 51 und S. 61). Mechtild Rössler konzentriert sich auf die Rolle und Bedeutung von Kulturlandschaften als zukünftigen Bezugsrahmen und veranschaulicht dies anhand einer tabellarischen Darstellung bisheriger im UN-System erfolgten Aktivitäten (S. 63-64). Im Beitrag von Shina Erlewein werden die Bezüge zwischen nachhaltiger Entwicklung und immateriellem Erbe vor dem Hintergrund der Aktivitäten der UNESCO und der UN-Berichte zur Vorbereitung der Agenda 2030 diskutiert.
Teil III enthält fünf Beiträge. Giovanni Boccardi fordert ein neues Erbe-Paradigma für das Anthropozoikum. Gemeint ist der Zeitabschnitt, „in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“ (Wikipedia). Davon ausgehend, dass Erbe ein soziales Konstrukt ist, und dass Michelangelo, hätte er heute gelebt, niemals hätte das tun dürfen, was er getan hat, fordert der Autor, die Ziele des Erhalts von Erbe mit den ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfordernissen zu versöhnen. Michael Turner beschäftigt sich mit der sozialen Nachhaltigkeit historisch gewachsener Stadtlandschaften angesichts exponentiell zugenommener Transformationsprozesse. Die UNESCO-Empfehlung von 2011 über historische Stadtlandschaften betrachte die Stadt nicht als einen Gegenstand, sondern als einen Prozess; sie stelle einen Ansatz von „sozialer Nachhaltigkeit“ dar, wodurch den NGOs die Rolle zukommt, auch den Einflussbereich bisher marginalisierter Gruppen auf der lokalen Ebene zu berücksichtigen (S. 108). Der Beitrag von Jyoti Hosagrahar ist dem städtischen Erbe in Südasien gewidmet, wobei die mit dem ungeplanten Tourismus verbundenen Gefahren deutlich aufgezeigt werden. Auch er hebt die wichtige Rolle lokaler NGOs und Bürgergruppen hervor (S. 115 und 122). Robert Rode befasst sich mit der Anerkennung der heiligen Naturstätten von indigenen Völkern im Kontext der kulturellen Dimension von nachhaltiger Entwicklung. Auch hier geht es wiederum um Kultur als vierte Säule im Prozess der Agenda 2030. Auch im Beitrag von Manuel Peters stehen die vierte Säule und deren Beziehungen zu den anderen drei Säulen im Mittelpunkt des Interesses (S. 138). Abschließend diskutiert er Solidarität als einen alternativen Ansatz zur nachhaltigen Entwicklung.
Im Kapitel IV werden insgesamt sechs Beiträge abgedruckt. Die ersten drei Aufsätze befassen sich mit disziplinären Ansätzen. Joaquim Sabaté und Mark Warren beschäftigen sich mit dem Konzept der kulturellen Landschaft, das sie am US National Park Service beispielhaft darstellen. Auch sie plädieren für eine stärkere Einbindung der örtlichen Gemeinden (S. 157). Solmaz Yadollahi befasst sich in einer Literaturübersicht mit der Definition von sozialer Nachhaltigkeit und der Bedeutung des öffentlichen Raumes. In zwei empirischen Studien geht es um die urbane Wiederbelebung, die Verbesserung der Lebensqualität und das Engagement der Bewohner. Beim Beitrag von Juliana Forero geht es um die soziale Funktion des Kulturerbes im Kontext sozio-kultureller Nachhaltigkeitsprinzipien. Das – sowohl materielle als auch immaterielle – kulturelle Erbe soll zur Verbesserung der Prozesse von sozialer Harmonie und friedlichem Zusammenleben dienen (S. 179). Ron van Oers geht noch einmal auf die widersprüchliche Diskussion in den Vereinten Nationen ein. Einerseits nahm die die UN-Generalversammlung im Dezember 2010 die Resolution 65/166 über Kultur und Entwicklung an, andererseits ist in der Agenda 2030 lediglich von den drei Säulen die Rede. Entsprechende Anstrengungen der UNESCO, die vierte Säule zu verstetigen, sind noch umzusetzen (S. 192). Der Autor referiert zwei Fallstudien mit höchst unterschiedlichen Management-Strategien und Problemen (Macau und Shanghai). Sehr deutlich weist Carol Westrik in Ihrer Studie auf die problematischen Beziehungen zwischen Welterbe und nachhaltigem Tourismus hin, wenn es um den „außergewöhnlichen universellen Wert“ geht. Kritisch geht sie auf konkrete Einzelfälle ein. Michael Kloos informiert über konkrete Stadtbildverträglichkeitsuntersuchungen, das heißt über die visuellen Auswirkungen von baulichen Maßnahmen auf ausgewählte Welterbestätten (Waldschlösschen-Brücke im Dresdner Elbtal, geplante Golden Horn Metro-Brücke in Istanbul, geplante Hochhäuser-Bauten auf der dem Kölner Dom gegenüberliegenden Rheinseite). Er zeigt auf, wie diese Untersuchungen – falls rechtzeitig in Anspruch genommen – gemeinsam mit entsprechenden Kommunikationsstrategien konstruktive Lösungen versprechen und unnötige Konflikte zu vermeiden helfen.
Wie bereits angedeutet, handelt es sich um einen Sammelband mit höchst unterschiedlichen Theorie-Ansätzen und konkreten Fallbeispielen. Insgesamt bietet das Buch einen außerordentlich guten Einblick sowohl in die „Werkstatt“ UNESCO mit ihren vielfältigen Bemühungen als auch in die Vielzahl der Institutionen des UN-Systems mit ihren Berührungspunkten zur Arbeit der UNESCO. Auch die Dynamik der ungelösten Probleme wird sichtbar, mit denen die Umsetzung der Agenda 2030 verbunden ist. Der vierte Pfeiler ist in seiner Komplexität sichtbar geworden; dessen Integration in ein weltweites Konzept zur nachhaltigen Entwicklung ist noch nicht zufriedenstellend gelöst.
Ohne Zweifel ist die Lektüre dieses Bandes trotz zusätzlicher Hilfen (Index und Literaturhinweise zu jedem Beitrag) keinesfalls einfach; es ist ein Fachbuch, das einerseits zu Folge-Arbeiten (zum Beispiel hervorragend geeignet als Seminar-Lektüre), andererseits zu „Übersetzungen“ herausfordert, um die Komplexität der angesprochenen Problemstellungen zu reduzieren und im politischen Raum verständlich zu machen.
Klaus Hüfner
Marie-Theres Albert (Hg.):
Perceptions of Sustainability in Heritage Studies.
Berlin/Boston: Walter De Gruyter, 2015, 239 S. (Heritage Studies, Band 4).
39,95 Euro. ISBN 978-3-11-041513-1