Rethinking Education. Towards a global common good?
Bereits im Vorwort von Generaldirektorin Irina Bokova wird darauf hingewiesen, dass es an der Zeit sei, wieder einen großen Entwurf über die Schlüsselrolle der Bildung im globalen Rahmen der Umsetzung der „Agenda 2030“ zu gestalten:
„Keine transformative Kraft ist mächtiger als Bildung - um die Menschenrechte und die Menschenwürde zu fördern, die Armut zu beseitigen und die Nachhaltigkeit zu vertiefen, um eine bessere Zukunft für alle zu gestalten, die auf Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit, Achtung der kulturellen Vielfalt, auf internationaler Solidarität und gemeinsamer Verantwortung beruht, die alle grundlegende Aspekte unseres gemeinsamen Menschseins darstellen“.
Ohne Zweifel handelt es sich um sehr hoch gesteckte Anforderungen, um eine neue Vision über die Rolle von Bildung, verbunden mit dem unerschütterlichen Glauben, dass dadurch die Welt eine bessere werden könne. Auch die Incheon-Erklärung „Bildung 2030“ von 21. Mai 2015 enthält in Ziffer 5 diese Forderung.
Nach dem Faure-Bericht “Learning to Be: The world of education today and tomorrow” (1972)[1] und dem Delors-Bericht “Learning: The treasure within” (1996)[2] sowie den konkreten Erfahrungen nach Jomtien (1990) und Dakar (2000) stellt sich einerseits die Frage, welche Konsequenzen in Deutschland, Europa und der Welt aus den damals vorgelegten Entwürfen zur Neugestaltung der Bildungssysteme und den in den letzten 25 Jahren erzielten (Miss-) Erfolgen tatsächlich gezogen wurden.[3] Andererseits stehen wir vor der Herausforderung, wie unsere Bildungssysteme und -prozesse gestaltet werden müssen, um die mit der Globalisierung verbundenen Veränderungen meistern zu können.
Werfen wir einen kurzen Blick zurück.
Im Faure-Bericht stand das lebenslange bzw. lebensbegleitende Lernen mit der Forderung im Mittelpunkt, sämtliche Bildungsprozesse vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung inhaltlich und organisatorisch als eine Einheit zu betrachten. Der Delors-Bericht nahm das Konzept des lebenslangen Lernens als bildungspolitische Leitlinie auf, wobei er zwischen vier zentralen, gleichberechtigten Aufgaben („Säulen“) unterschied:
- lernen zu wissen,
- lernen zu handeln,
- lernen zu leben und
- lernen, miteinander zu leben.
Unterstützt von einer Beratergruppe hat der Senior Programme Specialist Sobhi Tawil einen Text entworfen, den er mit einer Vielzahl von externen Experten und Kollegen aus dem UNESCO-Sekretariat diskutierte. Das Ergebnis ist eine Aufforderung an uns alle, Bildung und Lernen neu zu überdenken – ein Aufruf zum Dialog, um zu einer neuen Bildungsvision zu gelangen. Der Bericht liefert Denkanstöße, die Rolle der Bildung in einem umfassenden Kontext zu analysieren und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen.
Das Buch besteht aus einer Zusammenfassung (Executive Summary), einer Einleitung und vier Kapiteln. Das zweite Kapitel umfasst etwa 20 Seiten, während die anderen drei Kapitel jeweils rund 12 Seiten lang sind.
Das erste Kapitel startet mit dem zentralen Anliegen einer nachhaltigen Entwicklung, wobei „Nachhaltigkeit verstanden wird als das verantwortungsvolle Handeln von Individuen und Gesellschaften mit dem Ziele einer besseren Zukunft für alle auf lokaler und globaler Ebene – eine Zukunft, in der soziale Gerechtigkeit und umweltorientierte Verantwortung die sozio-ökonomische Entwicklung lenken“ (S.20). Kritisiert wird daher das immer noch dominierende Modell eines reinen Wirtschaftswachstums mit seinen verheerenden Konsequenzen einer unkontrollierten Umweltzerstörung sowie zunehmender sozialer Ungleichheiten: „Der Reichtum in der Welt ist wie folgt verteilt: fast die Hälfte gehört dem reichsten ein Prozent, während die andere Hälfte sich die übrigen 99 Prozent teilen“ (S. 23). Auch auf die Gefahren zunehmender ethnischer, kultureller und religiöser Intoleranz wird hingewiesen, die mit der Entwicklung neuer digitaler Technologien verbunden sind und zu gewaltsamen Konflikten führen. Bereits gegenwärtig leben etwa 500 Millionen Menschen in durch Konflikte gefährdeten Staaten. Ebenfalls deutlich angestiegen sind seit 2000 die weltweiten Militärausgaben. Aufgabe der Bildungspolitik ist es daher, hier gegenzusteuern, um weitere Ungleichheiten und soziale Spannungen zu verhindern. „Dies erfordert, dass sichere, gewaltlose, inklusive und effektive Lernbedingungen für alle garantiert werden“ (S.25).
Alternative Ansätze müssen erkundet werden. Dabei gilt es, bei der Vielfalt der Lebensrealitäten einen gemeinsamen Kernbereich universeller Werte erneut zu bestätigen. „Bildung kann und muss zu einer neuen Vision von nachhaltiger globaler Entwicklung beitragen“ (S.30).
Im zweiten Kapitel geht es um die erneute Bestätigung eines humanistischen Ansatzes, der von universellen ethischen Prinzipien ausgeht, welche die Grundlage einer integrierten Bildung für alle darstellt. Bildungsziele müssen unter Berücksichtigung von kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen und bürgerrechtlichen Dimensionen entwickelt werden; Bildung kann nicht nur unter arbeitsökonomischen Aspekten definiert werden. „Die humanistischen Werte, welche die Grundlagen und den Zweck der Bildung bedeuten, beinhalten: die Achtung des Lebens und der Menschenwürde, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit, kulturelle und soziale Vielfalt, und ein Gefühl der menschlichen Solidarität und gemeinsamen Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft“ (S. 38).
Gefordert wird eine neue Interpretation der vier Säulen von Delors, wobei zum Beispiel das Lernen, miteinander zu leben, nicht nur die sozialen und kulturellen Dimensionen der zwischenmenschlichen Beziehungen zu berücksichtigen hat, sondern auch die Nachhaltigkeit der Beziehungen des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt (S. 39). Grundsätzlich gelte, dass alle vier Säulen angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen aufs Höchste gefährdet seien.
Im dritten Kapitel werden die Herausforderungen diskutiert, die mit den bildungspolitischen Prozessen in einer komplexen Welt verbunden sind. Unter anderem wird auf die immer größer werdende Lücke zwischen formalen Bildungsprozessen und vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen, auf die Bewertung von Lernprozessen bei zunehmender Mobilität über nationale Grenzen hinaus und auf die notwendige Bildung zu einem Weltbürgertum. Auch Fragen nach den positiven und negativen Auswirkungen der internationalen Bildungsfinanzhilfe werden aufgeworfen.
Das vierte und letzte Kapitel beginnt mit einer überraschenden Frage, die sich bereits im Untertitel des Buches findet: Bildung als ein Gemeingut? Hier geht es nicht nur um die problematische Behandlung von Bildung unter ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auch und insbesondere um die Auflösung der Dichotomie von Bildung als einem öffentlichen oder privaten Gut. Im Dreieck der sich sehr schnell wandelnden Beziehungen zwischen Gesellschaft, Staat und Markt muss Bildungsfinanzierung je nach formaler Stufe sowohl als ein öffentliches als auch ein privates Gut angesehen und damit die Rolle des Staates differenzierter behandelt werden. Vor dem Hintergrund internationaler Verpflichtungen zum Recht auf Bildung genüge es nicht mehr, Bildung ausschließlich als ein öffentliches Gut zu betrachten. Es sei ein Missverständnis, dass „öffentliche Güter“ diejenigen Güter seien, die von der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. In diesem Band heißt es: „Gemeingüter wurden definiert als diejenigen Güter, welche, unabhängig ihres öffentlichen oder privaten Ursprungs, durch eine verbindliche Bestimmung gekennzeichnet und notwendig für die Verwirklichung der Grundrechte aller Menschen sind“ (S. 77).
Im vorliegenden Band werden mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben; es handelt sich um ein mutiges Vorgehen. Denn in der Tat müssen vorliegende bildungspolitische Ansätze auf den Prüfstand gestellt werden. Grundsätzlich geht es darum, die neuen Herausforderungen in einer globalisierten Welt in Angriff zu nehmen. Wenn wir Bildung als einen entscheidenden Schlüssel zur Bewältigung dieser Probleme ansehen, dann müssen wir offen sein für die Gesamtheit der sich stellenden Probleme, um für sie angemessene Lösungsvorschläge zu entwerfen. Dieses UNESCO-Buch bietet einen ersten wichtigen Schritt hierzu.[4] Dabei geht es konkret darum, das Ziel 4 der VN-Agenda 2030 („Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernen für alle fördern“) nicht isoliert zu betrachten, sondern in der Umsetzung mit den anderen 16 Zielen für nachhaltige Entwicklung zu verknüpfen.
Klaus Hüfner
[1] Faure, Edgar, und andere: Wie wir leben lernen. Der UNESCO-Bericht über Ziele und Zukunft unserer Erziehungsprogramme. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1973
http://unesdoc.unesco.org/Ulis/cgi-bin/ulis.pl?catno=201575&set=00569A2BA3_2_210&gp=0&lin=1&ll=1
[2] Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.) Lernfähigkeit: Unser verborgener Reichtum. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand, 1997
http://unesco.de/infothek/publikationen/publikationsverzeichnis/delors-bericht.html
[3] Eine gründliche Evaluierung des Beitrags der Bildung zur Verwirklichung der VN-Millenniumsziele 2000-2015 steht noch aus.
[4] Eine deutschsprachige Übersetzung wird von der Schweizerischen UNESCO-Kommission erstellt und im Internet veröffentlicht.
UNESCO: Rethinking Education. Towards a global good?
UNESCO 2015, 83 Seiten, ISBN 978-92-3-100088-1
http://www.unesco.org/new/en/education/themes/leading-the-international-agenda/rethinking-education (dort auch Download, 16 MB)